Die benachbarte Braustraße weist noch heute darauf hin: Das Feinkostgelände wurde einst als Brauerei erbaut. Im Jahr 1852 von Carl August Friedrich Lange an der damaligen Chaussee nach Connewitz gegründet, wurde die Langesche Bierbrauerei 1857 in die Aktiengesellschaft Vereins-Bier-Brauerei zu Leipzig umgewandelt.
Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich dieses Areal noch vor den Toren der Stadt, 40.950 Einwohner*innen zählte Leipzig 1830. Die Fabriken siedelten sich bald vermehrt im Süden an, denn in den 1860er Jahren – die Bevölkerung hatte sich bereits verdoppelt – wollte man die Altstadt mit dem erfolgreichen Messegeschäft rauch- und rußfrei halten. Die Brauerei samt Restaurationsbetrieb mit Tanzsaal, Freisitz und später erbautem Gildensaal profitierte von der sich verbessernden Infrastruktur, dem nahe gelegenen Kohlen- und Productenbahnhof sowie der Pferdebahnlinie Gohlis-Connewitz. So wurde die Brauerei zum beliebten Ausflugsziel und Gesellschaftsetablissement inmitten der durch gezielte Stadtplanung weiter ausgebauten Südvorstadt. Ende des 19. Jahrhunderts erreichte sie ihren wirtschaftlichen und baulichen Höhepunkt.
Das Ende der Vereins-Bier-Brauerei wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges – samt Rohstoffknappheit und sinkendem Absatz – eingeleitet. 1921 übernahm die Plagwitzer Brauerei C.W. Naumann AG das Braurecht und legte die Produktion auf dem heutigen Feinkostgelände still.
Zu Beginn der 20er Jahre litten die Menschen in den Städten unter Wohnungsnot, steigenden Mieten und unzureichender Verpflegung. Und doch gab es ein großes kulturelles Angebot für die über 700.000 Einwohner*innen Leipzigs. In den zahlreichen Kinos, Kabaretts und Theatern konnte sich die Kunst- und Kulturszene entfalten – auch auf dem ehemaligen Brauereigelände.
Von der 1925 gegründeten Grundbesitz-AG zu Leipzig verwaltet, nahmen in den ehemaligen Produktionsgebäuden Firmen wie die Vereinigten Konservenfabriken Karl v. Hausen und Söhne sowie die Niederlassungen der Weinessig- und Gurkenkonservenfabriken L. Hirsch (aus Schweinfurt und Düsseldorf) und von Arthur Schindlers Thüringia Marmeladen und Muskocherei GmbH die Arbeit auf.
Der Gildensaal als großer Raum für Theater und Festivitäten, der Gildenkeller und kleinere Gesellschaftsräume wurden mit den Restaurationsgebäuden an der damaligen Zeitzer Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße) verbunden und für zahlreiche kulturelle Veranstaltungen genutzt, u.a. vom Leipziger Billard-Club, dem Photoverein und der Deutschen Kakteen-Gesellschaft.
Das 1930 von den Leipziger Malern und Grafikern Martin Mendelsohn und Siegfried Wisch gegründete literarische Kabarett Litfaßsäule trat zunächst mit selbstgebauten Requisiten auf einer improvisierten Bühne im großen Gildensaal und später im Restaurationsbetrieb Südbräu auf. Neben Laienschauspieler*innen aus der Arbeiterklasse, die pro Auftritt 8 Reichsmark erhielten, waren auch Schauspieler*innen und Sänger*innen anderer Leipziger Theater wie Jenita Santas, Fred Wald, Erna Orth und Werner Wieland Mitglieder des Ensembles. Mit Texten von Leipziger Autor*innen wie Rolf Sievers sowie u.a. von Kästner, Zweig, Brecht und Hugo trat die Litfaßsäule dem Nationalismus und Rassenhass entgegen. Im Februar 1933 musste sie den Betrieb einstellen.
Im Jahr 1933 wurde aus der damaligen Zeitzer Straße die Adolf-Hitler-Straße und in der Geschichte des Feinkostgeländes begann ein dunkles Kapitel. Mindestens 60.000 Frauen, Männer und Kinder aus ganz Europa wurden zwischen 1939 und 1945 in Leipzig zur Zwangsarbeit verpflichtet und unter anderem hier untergebracht.
Während die Konserven- und Marmeladenproduktion auf dem ehemaligen Brauereigelände fortgeführt wurden, erfuhr der Gildensaal eine Umgestaltung und wurde zunächst als Versammlungshalle genutzt. Ab Dezember 1941 erfolgte die Anmietung des Saals (als Schlafsaal) und des ersten Kellergeschosses (für Wasch- und Essgelegenheiten sowie als Aufenthaltsraum) zur Einrichtung eines „Ausländerlagers“ durch die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG Dessau für ihre Flugzeugbau-Werft, ansässig am Flughafen Leipzig-Mockau.
Ab Februar 1943 war das Lager als „Gemeinschaftslager Südbräu“ eins von drei Zwangsarbeiterlagern der Wirtschaftskammer Leipzig. Die bis zu 185 Frauen und Männer aus Frankreich, Belgien, der Ukraine, Ungarn und Polen arbeiteten für 96 Betriebe in Leipzig. Durch Bombentreffer am 27. Februar 1945 wurde der Gildensaal zerstört, die Kellergeschosse blieben unversehrt. Nach notdürftiger Instandsetzung wurden ab Mitte März bereits wieder 100 Menschen untergebracht. Erst Ende April 1945 endete die Zwangsunterbringung. Über das weitere Schicksal der Zwangsarbeiter*innen ist wenig bekannt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Feinkostgelände zunächst vom Trümmerschutt befreit. In den unbeschädigten Gebäuden setzte man die Konservenproduktion fort. 1952 wurden die auf dem Areal ansässigen Firmen zum VEB Feinkost Leipzig zusammengeführt. Dieser produzierte fortan Gemüse-, Obst- und Fleischkonserven, Spirituosen, Obstpulpe, Marmeladen und Essig.
Die Anfänge des VEB (Volkseigener Betrieb) waren dabei geprägt von strukturellen Schwierigkeiten. Sowohl die zuvor noch einzeln existierenden Unternehmen als auch der VEB als Ganzes waren in der volkswirtschaftlichen Materialplanung für 1952 nicht erfasst, was zu Engpässen in der Produktion führte. Auch in den Folgejahren wechselten sich Übererfüllung des vorgesehenen Plans aufgrund von reichen Ernten sowie Lieferschwierigkeiten aufgrund von Rohstoff- und Materialmangel ab.
Die Produktionsstätte des VEB Feinkost Leipzig erstreckte sich über das gesamte ehemalige Brauereigelände mit drei teilweise überdachten Werkhöfen, den riesigen Kellergewölben sowie dem wieder aufgebauten Gildensaal. Dieser wurde zur größten Produktionshalle des Areals. Hier wurden unter anderem das Obst und Gemüse sortiert, eingekocht und abgefüllt.
Ende der 1950er Jahre beschäftigte der VEB mehr als 250 Mitarbeiter*innen, die meisten davon Frauen. Produktionsarbeiter*innen verdienten im Jahr rund 3.300 DM (Deutsche Mark – bis 1964 Bezeichnung der DDR-Währung). Mitarbeiter*innen in der Verwaltung erhielten rund 4.600 DM und technisches Personal rund 6.600 DM. Die Produktionsbedingungen waren teilweise sehr hart, gerade in den riesigen Tiefenkellern, die sich 12 Meter unter der Erde über fast das gesamte Gelände erstreckten. Sie wurden bereits zu Brauereizeiten im 19. Jahrhundert erbaut. Während man sie damals als Kühl- und Lagerräume nutzte, herrschten zu VEB-Zeiten teilweise 30 bis 40 Grad Celsius, denn die im Gildensaal abgefüllten Konserven kamen kochend heiß in den Kellern an, um hier etikettiert und konfektioniert zu werden. Mit den Feinkost-Konserven wurde der Handel beliefert, aber auch die Leipziger Messe sowie die Nationale Volksarmee.
Im Laufe der Zeit wurden von den Mitarbeiter*innen des VEB Feinkost Leipzig immer wieder neue tischfertige Konserven entwickelt. So nahm man 1968 sieben weitere Gerichte ins Sortiment auf (z.B. Szegediner Gulasch sowie Reis mit grünen Bohnen und Fleisch) von denen im Laufe des Jahres 250 Tonnen produziert werden sollten.
Gearbeitet wurde teilweise im Dreischichtsystem, während der sogenannten „Sommerinitiativen“ auch mit Unterstützung von Schüler*innen und Studierenden der Handelshochschule. Von Januar bis September 1973 wurden z.B. 1,5 Mio. Gläser Erbsen und 1,4 Mio. Gläser grüne Bohnen produziert. Im gleichen Zeitraum wurden 120.000 Gläser Gurken und 50 Tonnen Brüh- und Salzgurken an den Handel geliefert.
Mit dem Ende der DDR nahm die Treuhandanstalt und später die Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) auch in Leipzig ihre Tätigkeit auf. Der VEB Leipziger Feinkost wurde aufgelöst und die Produktion auf dem Gelände 1992 stillgelegt. In die Werkverkaufsstelle zog ein Discounter ein und auf dem weitläufigen Gelände ließen sich nach und nach Künstler*innen, Kreative und kleinere Gewerbetreibende nieder. Das älteste, seit 1995 existierende Ladengeschäft ist das Mrs. Hippie.
Im Laufe der Zeit gab es immer wieder Pläne der TLG zur Veräußerung des Feinkostareals. Mitte der 2000er Jahre strebte die TLG schließlich den großflächigen Abriss der mittlerweile unter Denkmalschutz stehenden Gebäude an. Doch die Interessengemeinschaft Feinkost wehrte sich, sammelte unter dem Motto „Milieuschutz Feinkost Leipzig“ ca. 13.000 Unterschriften und legte der Stadt eigene Nutzungspläne für den vorderen Hof vor.
2004 gründete sich die Kunst- und Gewerbegenossenschaft Feinkost eG, die das heute noch erhaltene vordere Gebäudeensemble als Kultur- und Gewerbehof der Öffentlichkeit weiterhin zugänglich machen wollte. Aufgrund des großen öffentlichen Interesses schaltete sich die Stadt als Vermittlerin ein. Am Ende des öffentlichen Ausschreibungsverfahrens für das Areal an der Karl-Liebknecht-Straße konnte sich die Kunst- und Gewerbegenossenschaft Feinkost eG 2006 durchsetzen und wurde 2007 Eigentümerin des Geländes. Im selben Jahr ließ die TLG den letzten Durchgang zum zweiten Feinkosthof schließen, die dortigen Gebäude abreißen und Platz für einen Discounter schaffen.
Aus einer Initiative heraus, die sich in den 2000ern gegen den Abriss des Feinkostgeländes einsetzte, gründete sich am 20. Oktober 2004 die Kunst- und Gewerbegenossenschaft Feinkost eG. Sie ist ein Zusammenschluss von Handwerker*innen, Händler*innen, Dienstleister*innen und Künstler*innen und zählt derzeit 20 Mitglieder, die mit ihren Ladengeschäften, Werkstätten und Büros auf dem Gelände ansässig sind.
Kleinteiliges Gewerbe und Märkte, Sommertheater und Sommerkino, bunte Veranstaltungen und Konzerte: Ihren Besucher*innen bietet die Feinkost heute eine künstlerisch-kreative Atmosphäre sowie einen Rückzugsort im Leipziger Süden, der einen ganz eigenen historischen Charme mit zukunftsgewandten Nutzungsideen verbindet.
Demokratie, Eigeninitiative, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung und Solidarität sind zentrale Werte der Genossenschaft. Die Genossenschaftsidee, die von der Deutschen UNESCO-Kommission 2014 in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde, wird von den Mitgliedern im täglichen Miteinander gelebt.
Verliert ein Industriedenkmal seine ursprüngliche Nutzung, kann es entweder museal oder durch eine Umnutzung erhalten werden. Das Ziel der neuen Nutzungsform des Industriedenkmals sollte der größtmögliche Erhalt der charakteristischen Eigenschaften und das Bewahren des Zeugniswertes der Gebäude sein. Die Kunst- und Gewerbegenossenschaft Feinkost eG hat die Absicht, dies auch in Zukunft zu gewährleisten. Dazu gehören der Schutz vor dem Abriss, die historische Aufarbeitung, die öffentliche Zugänglichkeit und somit die neue denkmalgerechte Nutzung. Der Fortbestand der Feinkost soll langfristig gesichert werden.
Die Nutzungen des Geländes sollen so vielfältig wie die Feinkost selbst sein. Das bereits bestehende kulturelle Angebot im ehemaligen Industriehof soll erhalten und erweitert werden. In den Läden und Werkstätten wird der Fokus weiter auf handwerklicher Ökologie, Reparatur und Recycling sowie kunsthandwerklicher, gestalterischer Produktion liegen. In den Obergeschossen ist Raum für Büros und Ateliers. Die Gewölbetonnen im Keller eignen sich aufgrund ihrer Dimension und Bauweise hervorragend für die Nutzung als Veranstaltungsräume und sollen in Zukunft durch entsprechende Sanierungsarbeiten nutzbar gemacht werden.